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Interkulturelle medizinische Ethik (Langfassung)

Gastärzte aus Haiti - Dr. Adelin Charles/Haiti (links), Priv.-Doz. Dr. med. T. Bohrer (Mitte), Dr. Godson Jean-Louis/Haiti (rechts) - (Fotographie: Dr. med. Simon/Bamberg)
Gastärzte aus Haiti - Dr. Adelin Charles/Haiti (links), Priv.-Doz. Dr. med. T. Bohrer (Mitte), Dr. Godson Jean-Louis/Haiti (rechts) - (Fotographie: Dr. med. Simon/Bamberg)

In den letzten Jahren erschienen mehrere Berichte in den Medien [1,2,3], die sich sehr kritisch mit den Hilfseinsätzen in Haiti nach dem großen Erdbeben vom 12. Januar 2010 auseinandersetzten, bei dem vorsichtigen Schätzungen der UN nach ca. 200.000 Menschen starben, hunderttausende verletzt wurden und ca. 2.000.0000 obdachlos wurden [4]. In Folge diese Katastrophe, die heute schon wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist, wurde Haiti von einer bisher nicht gekannten Anzahl von staatlichen und privaten Hilfsorganisationen (NGOs) heimgesucht, vorsichtige Schätzungen gehen von ca. 7.000 aus [1]. Von den UN wurde im April 2010 eine internationale Behörde, die Interimskommission für den Wiederaufbau (=CIRH) ins Leben gerufen, unter anderem unter Vorsitz von Bill Clinton, dem ehemaligen US-Präsidenten, um die internationale Hilfe unter dem Motto „to build back better“ Haiti zu koordinieren. Allerdings ließen sich von den Hilfsorganisationen nur ein Bruchteil von ca. 6 % registrieren und nur eine verschwindend kleiner Anteil von ca. 0,3 % legte einen Geschäftsbericht und damit eine Offenlegung und einen Nachweis des eigenen Tuns vor [1]. Dies war ein erster Hinweis darauf, dass die internationale Koordinierung nicht funktionierte und eigene Interessen der jeweiligen Hilfsorganisationen Priorität besaßen. Noch dramatischer wurde die Lage in Haiti, als im August 2010 die in den letzten Jahrzehnten schwerste Choleraepidemie weltweit durch UN-Soldaten aus Nepal eingeschleppt wurde [5], in deren Folge zehntausende erkrankten und mindestens 7.000 Menschen starben [6]. Aufgrund nachlassender Spendenbereitschaft, im englischsprachigen Raum treffend donor fatigue genannt, fehlender Mittel und organisatorischer Gründe verließen ausgerechnet zum Höhepunkt dieser Epidemie ein Großteil der Hilfsorganisationen Haiti. Auch wurde im August 2011 die Latrinenreinigung durch das UN-Büro für Projektdienste (UNOPS) und das Haitianische Amt für Wasser und Stadtreinigung aufgrund Geldmangel und ausbleibender Koordination von den zuständigen Behörden in den riesigen Flüchtlingscamps eingestellt [7], was die Situation für hunderttausende Obdachlose weiter verschärfte. Die Hälfte der Bevölkerung muss auch heute noch, selbst nach den tausenden von Hilfseinsätzen in Haiti mit weniger als 1 USD pro Tag auskommen [8].

Alle Autoren dieser Arbeit waren nach dem Erdbeben im Jahr 2010 für mehrere Wochen in einem Feldlazarett einer großen internationalen Organisation tätig. Der deutsche Autor konnte vor Ort einen kritischen Einblick in die Durchführung und Planung von Hilfseinsätzen auch anderer Organisationen nehmen und begegnete auffällig häufig Situationen mangelnder Kooperationsbereitschaft, Missmanagement, Verschwendung von Hilfsgeldern und einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber haitianischen Hilfskräften. Das internationale Personal wurde von haitianischen Hilfskräften und Ärzten sogar räumlich abgeschottet. Das Misstrauen ging so weit, dass einheimischen Ärzten für ihre Patienten lebenswichtige Medikamente wie Insulin mit Verweis auf bürokratische Abläufe und angebliche Statuten vorenthalten wurden.

Während dieses Einsatzes in einem internationalen Feldlazarett in Port-au-Prince im Jahr 2010 wurden von den Autoren trotz der genannten Barrieren, bedingt durch die intensive und kollegiale Arbeit, Kontakte geknüpft. Die initiale Motivation war aufrichtige Neugier auf den Anderen und für die jeweils andere Kultur und Denkweise während der gemeinsamen Arbeit (siehe Abb. 1). Die Ausgangspositionen waren völlig unterschiedlich: Hier in Haiti, einem der ärmsten Länder der Erde, zum einen eine medizinische Versorgung mit nur dem Notwendigsten, allgegenwärtigem Mangel an Personal, Geräten und Medikamenten, zum anderen aber auch eine sehr hohe Motivation der haitianischen Ärzte und Pflegekräfte sich für ihre Landsleute trotz minimalem Verdienst weit über reguläre Arbeitszeiten hinaus einzusetzen, eine unglaubliche Fähigkeit zum Wohle von Patienten zu improvisieren und jedem Patienten trotz der genannten Einschränkungen eine möglichst gute Therapie zukommen zu lassen. Im westeuropäische Denken hingegen eine hochspezialisierte und ausdifferenzierte High-Tech Medizin unter allgegenwärtigen ökonomischen Rahmenbedingungen mit sehr guten Behandlungsoptionen und –erfolgen und einem Verdienst für Ärzte, das in der Regel mehr als das 10 bis 20-fache im Vergleich zu ihren haitianischen Kollegen beträgt.

Wir haben im Anschluss an unser Kennenlernen in Haiti nach dem Erdbeben ein gemeinsames Pilotprojekt ins Leben gerufen: Seit 2011 kommen haitianische Ärzte, so auch die Koautoren dieses Beitrages, regelmäßig nach Deutschland, um sich in speziellen Fächern weiterzubilden (Abb. 2). Inhalt des Pilotprojektes ist zum einen der Erwerb von medizinischem Wissen und Know-how, zum anderen das Fördern des gegenseitigen kulturellen Verständnisses. In Bamberg haben sich sowohl mehrere Instituts- und Klinikleiter, als auch niedergelassene Kollegen mit eigener ärztlicher Praxis zu einem Aktionsbündnis für Haiti zusammengeschlossen. So etabliert nun Dr. Charles Haitis erste öffentliche Schmerzklinik durch Expertise, die er, intensiv gefördert durch die die Klinik für Anästhesiologie, an der Sozialstiftung in Bamberg erwirbt. Dr. Godson wird auf thoraxchirurgischen Gebiet strukturiert am Thoraxzentrum Bamberg weitergebildet, da für 9,6 Mio Haitianer bisher nur zwei Thoraxchirurgen  in Port-au-Prince, der Hauptstadt zur Verfügung stehen und der ländliche Raum komplett unterversorgt ist. Des Weiteren sind Weiterbildungen von jungen Ärzten auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin in die Wege geleitet. Hier kooperieren niedergelassenen Kollegen aus Bamberg, die in Kürze Ausbildungsassistenten annehmen. Ziel ist es hierfür, die allgemeinärztliche regionale Notfallversorgung in lokalen Health Centers zu verbessern. Das Projekt wird ausschließlich durch Spenden finanziert und ist frei von religiösen politischen oder weltanschaulichen Vorstellungen. Dabei profitiert die deutsche Seite im Kennenlernen einer völlig anderen Kultur, der Wertschätzung einer medizinischen Versorgung über reines Spezialistentum hinweg und der zunehmenden Aufmerksamkeit, Ressourcen maßvoller und kostengünstiger zu nutzen.

Plädoyer für eine neue interkulturelle medizinische Ethik

Es erscheint in der eingangs genannten Praxis der Katastrophen- und Entwicklungshilfe so, dass das seit Jahrzehnten bekannte psychologische Phänomen einer Diffusion von Verantwortlichkeit(en) [9] vorliegt, gesteigert in extremen Fällen von einer Beseitigung von Verantwortung unter konsekutiver Nichtbeachtung des Prinzips der Menschenwürde, die keinen Anerkennungssachverhalt mehr darstellt und einem sinnlosen Begriff gleichkommt. Es sind gerade jedoch diese Bedingungen, die existentielle Interessen von Menschen unberücksichtigt lassen.

Grundlage für unseren gemeinsamen, neuen Denkansatz ist die Idee einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf Grundlage einer interkulturell zu etablierenden medizinischen Ethik unter Hinzuziehung der philosophischen Begriffe von Menschenwürde und Verantwortung. Der Begriff der Entwicklungshilfe ist hier in der Tat nicht nur untergeordnet, sondern nebensächlich. Wir suchen nach gegenseitigem Verständnis durch Begegnung auf Augenhöhe, Wertschätzung und Kennenlernen der jeweilig anderen Kultur unter Berücksichtigung der jeweiligen Gemeinsamkeiten und Differenzen. Postkoloniales Denken und die in vielen Hilfsorganisationen noch verbreiteten pauschale Vorurteile, wie zum Beispiel typischerweise die Auffassung, dass Haitianer sich selbst niemals zu helfen wüssten und weiterhin in einem failed state existieren werden, haben in unserem Verständnis keinen Platz.

Studien und zahlreiche Veröffentlichungen zu Menschenrechten sind bereits vorhanden [10;11;12], auch fundierte Studien zu interkulturellem Verständnis existieren bereits [13]. Unser Konzept ist dagegen die philosophische, normative Grundlegung einer interkulturellen medizinischen Ethik und will über einen Ansatz einer Moral in extremen Lagen [14] hinausgehen. Zu dem Begriff einer interkulturellen medizinischen Ethik und der diesbezüglichen systematischen Normenreflexion moralischen Handels findet man bisher überraschenderweise keine Treffer in Suchmaschinen des Internets. Gerade auf der Ebene der Medizin ist jedoch der ethische Anspruch in der Praxis traditionell und über die Kulturen hinweg oftmals sehr hoch. Dadurch, dass Ärzte sich dem Menschen in seinem Zustand des Krankseins oder im Sterbeprozess widmen, verbindet sie ein anthropologisches Verständnis über alle Grenzen hinweg, angefangen vom primum nil nocere bis zum Anspruch, das Patientenwohl als summum bonum anzusetzen. Wir haben festgestellt, dass Ärzte über unsere Kulturen hinweg bewerten können, welche Einzelhandlungen auf normativ-ethischen Gebiet strittig sind: Entscheidendes Merkmal dieses Verständnisses ist die Übernahme einer interkulturellen Verantwortung und damit die wechselseitige Wertschätzung des Begriffs und Zuerkennung der Menschenwürde. Menschenwürde als Rechtsgut wird sowohl im Deutschen Grundgesetz von 1949 Artikel 1 als auch fast 150 Jahre vorher bereits in der haitianischen Verfassung von 1804 als hohes Rechtsgut, inspiriert durch die Ideale der französischen Revolution und die Unabhängigkeitserklärung, gewertet. Gerade diese Prinzipien der Menschenwürde und der Verantwortung stehen in der internationalen Katastrophen- und Entwicklungshilfe immer wieder auf dem Prüfstand, da sie als theoretische Begriffe abstrakt erscheinen und die institutionellen Träger der Begriffe nicht definiert sind. Letztendlich bleiben diese Normen immer wieder auf der Strecke. Dies wird im Gegensatz zur institutionalisierten westlichen Entwicklungshilfe jedoch von haitianischer Seite sehr genau wahrgenommen, weil es letztendlich vitale Interessen und das Überleben von Menschen betrifft. Um allerdings über Menschenwürde diskutieren zu können, fassen wir dieselbe nicht wie gegenwärtig fast nahezu alle Juristen und Philosophen als ein „Ausstattungsmerkmal“ im Sinne Immanuel Kants auf, das beinhaltet, dass den Menschen als Menschen von Geburt an Menschenwürde quasi angeboren ist. Hier können eigentlich nur moralische Appelle ausgesprochen werden. Wir setzen vielmehr den modernen Ansatz des Philosophen und Medientheoretikers Johann-Heinrich Königshausen voraus, der besagt, dass wir bereits in einer sprachlich kommunikativen Gemeinschaft leben, die uns „Würde“ zugestanden hat [15]. Damit verschiebt sich jedoch ihr Anspruch und wird zu einem Geschenk der Gemeinschaft an den Einzelnen. Das bedeutet jedoch, dass wir der Gemeinschaft auch über kulturelle Grenzen hinweg die Menschenwürde schulden und dies nicht nur in theoretisch normativer Hinsicht, sondern auch im praktischen Tun.

Unser Plädoyer für eine interkulturelle medizinische Ethik fordert deswegen, dass es Ziel der Medizin und ihren spezifischen Ethik der Verantwortung sein sollte, unseren Mitmenschen nicht nur sofort nach dem Auftreten einer Katastrophe, wie in Haiti, sondern auch später dauerhaft und nachhaltig in einer ärztlichen Gemeinschaft über die Kulturen hinweg zu unterstützen, mit ihnen zusammenzuarbeiten und gegenseitig daraus zu lernen. Partnerschaftliche Zusammenarbeit durch interkulturelles Wissen voneinander, moralisches Handeln auf individueller, aber auch institutioneller Ebene und gemeinsame ethische Normenreflexion ist weit mehr als bloße Entwicklungshilfe. Es ist letztendlich das immanente Prinzip der Menschenwürde, das diesem neuen Denken zugrunde liegt und das wir uns wechselseitig nicht nur zuerkennen müssen, sondern auch über kulturelle Grenzen hinweg schulden.

 

Literaturverzeichnis

[1] Polman L, Torgovnik J: Hilflos in Haiti. Zeitschr Geo 2012; 1:80-100

[2] Plettner A: Ein Land liegt am Boden. Dtsch Ärztebl 2010; 107 (47): 2013-2014

[3] Schenck N: Die Seuche nach dem Erdbeben. Süddsch Zeitung 2012; 96 (25): 18

[4] Bayard D: Haiti Earthquake Relief, Phase Two. New Engl J Med 2012; 36               (15)

[5] Butenop J: Cholera in Haiti – Tragödie in den Trümmern. Bayr. Ärztebl  2012; 3: 116-118

[6] Rapport de Cas, Ministere de la Sante Publique et de la Population, 4. Dezember 2012

[7] www.haitireconstruction fund.org/hrf und www.ipsnes.net/news.asp.idnews

[8] www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Haiti/Wirtschaft_node.html

[9] John M D, Bibb L: Relieved of responsibility: Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility. J Personality and Social Psych 1968; 8: 277-83

[10] Jack D: Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca, New York1989; 112ff

[11] Alison D R: International Human Rights. Universalism versus Relativism, Newbury Park, Cal. 1990, 88ff

[12] Hirsch K, Seitz K (eds): Zwischen Sicherheitskalkül, Interesse und Moral. Beiträge zur Ethik der Entwicklungspolitik. Iko-Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2004; 1.  Auflage

[13] Beck H: Episoden und das Ganze. Werden einer philosophischen Existenz. Verlag Peter Lang 2012; Schriften zur Triadik und Ontodynamik, Bd. 30

[14] Herzberg G: Moral in extremen Lagen. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg, 2012

[15] Johann-Heinrich Königshausen; Vortrag anlässlich des Symposiums des Würzburger  Philosophicums zum Thema Menschenwürde, gehalten am 12.12.2012; www.philosophicum.ukw/Symposium_Menschenwürde/de